Vielleicht ist "Autismus" keine nützliche Kategorie, während es für autistische Menschen und ihre Mitmenschen entscheidend wäre, ihre jeweiligen (autistischen) Denk- und Wahrnehmungscharakteristik zu kennen.
Die hier vorgenommene Clusterung und Beschreibung ist immer nur vorläufig. Mit jeder neuen Erfahrung kann dieses Modell korrektur- oder erweiterungsbedürftig sein. Es beinhaltet im Wesentlichen die Erfahrungen, die ich in den letzten Jahren in den Workshops machen durfte.
Dass die einzelnen Wahrnehmungskanäle (Sehen, Hören, Riechen etc.) voneinander getrennt erscheinen, ist eine Illusion. Tatsächlich setzt auch Sprache eine Synchronisation von Sehen, Hören und Bewegen voraus. Als getrennten Denkern erscheint autistischen Menschen die Synchronisation von Wahrnehmungskanälen aber anders und häufig deutlicher als nichtautistischen Menschen. Das liegt nahe, da die einzelnen Wahrnehmungskanäle unterschiedlich mit dem sprachlichen Denken interagieren und autistische Menschen immer beide Aspekte ihres Denkens bewusst erkennen. In den Workshops tauchen nicht oft, aber immer wieder, Teilnehmende auf, die sich von Dingen, die mehrere Wahrnehmungskanäle miteinander verbinden, besonders angezogen fühlen (beispielsweise die Verbindung von Buchstaben und Farben in der Eurythmie). Sie fallen - nach meiner Erfahrung - auch dadurch auf, dass sie sehr empfindlich gegenüber der Qualität von Wahrnehmung sind, aber nur wenig empfindlich gegenüber der Quantität (beispielsweise bestimmte Töne nicht ertragen können, aber kein Problem mit Lärm oder lauter Musik haben).
Die von Temple Grandin beschriebenen Bilderdenker gibt es tatsächlich - und sie sind auch gar nicht so selten. Oft sind ihre Fähigkeiten verborgen, auch ihnen selbst, und statt dessen stehen die Herausforderungen ihres spezifischen Denkens im Vordergrund. Bilderdenken ist immer mit einem hervorragenden Gedächtnis verbunden, das auf Bildern basiert. In fast allen Fällen ist deutlich zu erkennen, dass Logik und logisches Denken für diese Autisten eine wichtige Rolle spielt; sie sind für sie der Schlüssel zum Verständnis ihrer (sozialen) Umwelt. Sie sind oft sehr genaue und assoziative Denker, das heißt, sie verknüpfen ihre wahrgenommenen Inhalte über Ähnlichkeiten miteinander (Farben, Formen, Klänge etc.). Oft ist auch erkennbar, dass Bilderdenker anderen Menschen gegenüber emotional recht offen sind und es ihnen schwer fällt, ihre eigenen Gefühle von denen anderer Menschen klar zu unterscheiden. Unter den Bilderdenkern finden sich in aller Regel auch diejenigen Autisten, die wenig oder gar nicht sprechen oder die mit dem Lesen und/oder Schreiben Schwierigkeiten haben. Unter den autistischen Menschen, die in Bildern denken, habe ich sowohl solche erlebt, die häufig zum Teil massive Wahrnehmungsüberforderungen (Overloads) erleben, als auch solche, die dagegen gerazu immun zu sein scheinen. Im deutlichen Unterschied zu ersteren haben letztere eine außergewöhnlich hohe Konzentrationsfähigkeit. Auffallend ist, dass gerade bilderdenkende Menschen, die sich verbal gut ausdrücken können, anfälliger für solche Overloads zu sein scheinen. Bilderdenker sind visuelle Denker, ihre Leitwahrnehmung ist das Sehen.
Ich selbst zähle mich zu den Musterdenkern, durchaus auch in Temple Grandins Sinn. Allerdings habe ich in den Workshops bemerkt, dass es sehr unterschiedliche Typen von Musterdenkern gibt. Da finden sich zum einen welche, deren Denken ausgesprochen analytisch ist, so wie meines, aber auch welche, die deutlich in Assoziationen denken. Es gibt diejenigen (wiederum wie mich), deren Leitwahrnehmung das Hören ist, aber auch welche, die offensichtlich durch das Sehen geleitet werden. Bei letzteren, die in der Gruppe der Musterdenker wohl eher in der Minderheit sind, habe ich allerdings meistens erkennen können, dass ihr Sehen ein ungewöhnliches Stärke-Schwächenprofil zeigt, etwa in der einen Beziehung sehr akkurat und detailfixiert ist, in einer anderen aber Überblick und Orientierung verliert. Musterdenkern fällt es im Allgemeinen schwer, Konzept hinter den Details zu erkennen. Gedächtnis und Konzentration scheinen hier eher mäßig zu sein und sollten trainiert werden. Auffallend ist auch, dass - in einem deutlichen Unterschied zu Bilderdenkern - Musterdenker sprachlich gute bis sehr gute Fähigkeiten zeigen. Sie haben weniger wie jene eine Neigung zu rigider Logik, sondern ziegen einen souveränen, spielerischen Umgang mit ihrem logischen Denken. Sie sind auch emotional nicht so durchlässig, sind aber auffallend schlecht in der Lage, sich zu verstecken; ihre "Ich-Maske" ist häufig unvollständig und brüchig. Sie empfinden sich anderen Menschen gegenüber als "offene Bücher". Oft empfinden sie kaum einen Unterschied zwischen Menschen, die sie sehr gut kennen (ihre Eltern etwa) und Fremden. Eine solche Unterscheidung stellen sie eher auf intellektuellem Wege her.
Der mit einer starken Vorliebe für das Ordnen und Sortieren verbundene Denktyp ist dem Musterdenken recht nahe. Ich habe ihn gesondert aufgeführt, weil die autistischen Menschen von diesem Typ im Unterschied zu den Musterdenkern durch eine außerordentliche Geduld und Konzentration bei der Durchführung von gleichbleibenden Tätigkeiten auffallen. Sie werden vom Gleichbleibenden geradezu angezogen. Menschen mit einer Vorliebe für das Ordnen und Sortieren von Dingen nehme ich als sehr stabil wahr, als Menschen, die in sich ruhen, weil sie es schaffen, die Struktur, die sie benötigen, selbst auch herzustellen. Auch das ist ein Unterschied zu den Musterdenkern. Eine Neigung zu Overloads konnte ich in dieser Gruppe bislang nicht erkennen. Das Denken dieser Menschen ist nicht nur strukturierend, sondern durchaus auch kreativ. Hier zeigt sich, dass die Fähigkeiten, Strukturen zu geben, eine gute Grundlage für eine Kreativität bildet, die sich zwar in einem gegebenen Rahmen bewegt, diesen aber auch auszufüllen vermag.
In Bezug auf Autismus ist häufig von "Theory of Mind" die Rede, dem intuitiven Erfassen innerer Zustände anderer Menschen. Dies darf nicht mit Mitfühlen oder dem Spüren der inneren Zustände anderer Menschen verwechselt werden. Das intuitive Erfassen meint ein Verstehen, das zugleich auch eine deutliche Grenze zu den eigenen inneren Zuständen zieht; das Spüren dagegen identifiziert sich mit den Zuständen anderer Menschen (siehe "Hyperempathisches Denken"). Autistischen Menschen wird mit einer gewissen Berechtigung eine mangelnde intuitive "Theory of Mind" nachgesagt; gleichwohl können sie sich die inneren Zustände anderer Menschen durch Beobachten weitgehend erschließen. Weniger häufig wird berichtet, dass nicht wenige autistische Menschen in der Lage sind, Funktionszusammenhänge etwa in Maschinen oder Computern intuitiv zu erfassen. Diese Funktionszusammenhänge stellen so etwas wie die inneren Zustände der Maschinen dar. Ich bin auf diese Fähigkeiten zuerst durch Dokumentationen über die Intelligenz von Rabenvögeln gestoßen. Dabei ist mir aufgefallen, dass sie durch bloßes Betrachten komplexe Schließvorrichtungen verstehen und danach öffnen können - ohne Ausprobieren. Ein solches intuitives Verständnis von Funktionszusammenhängen nenne ich "Theory of Function", weil es nach meinem Dafürhalten zur "Theory of Mind" einige Parallelen gibt. Menschen mit einer guten Theory of Function sind voll und ganz in der Objektwelt zu Hause. Sie fühlen sich Dingen und Objekten näher als Menschen und empfinden sich in der Welt der Menschen als ausgesprochen fremd. Sie sehen sich in aller Regel außer Stande, andere Menschen zu "lesen" und können umgekehrt von anderen nicht gelesen werden. Als objektbezogene Persönlichkeitstypen sind sie die "wahren Aliens" unter den Autisten; sie werden als sehr verschlossen wahrgenommen, obwohl sie in Wirklichkeit sehr offen sind.
Empathie ist ein ausgesprochen schwieriger Begriff; so häufig, wie er benutzt wird, so wenig wird er oft verstanden. Ich bin daher mit dem Begriff "Hyperempathie" für diesen Denktypen sehr unzufrieden. Was ich meine, sind autistische Menschen, die Gefühle anderer Wesen oder Dinge empfinden können. Hier ist auch der Begriff Gefühl erklärungsbedürftig: Ich verstehe darunter ein unmittelbares, das heißt nicht vorranging aus der Beobachtung abgeleitetes, Erfassen innerer Zustände. Dabei kann es sich um die inneren Zustände von Menschen als auch um die von anderen Lebenwesen oder Dingen handeln. Nach meiner Beobachtung gibt es mit diesem Denktyp autistische Menschen, die einen sehr direkten Zugang zu anderen Menschen haben, oder welche mit einem zu Lebewesen und Dingen. Ich habe dabei noch nie beides zusammen beobachten können. Menschen mit einem solchen Zugang zu anderen Menschen spüren die Gefühle anderer Menschen wie ihre eigenen; oft fällt es ihnen schwer, beides voneinander zu unterscheiden. Autisten, die Menschen gegenüber derartig offen sind, sind zugleich auch Sprache und sprachliches Denken offensichtlich fremd. Menschen mit einem direkten Zugang zu den inneren Zuständen von Lebewesen oder Dingen haben dagegen meistens keinen Zugang zu den Gefühlen anderer Menschen, die sich sich eher rational erschließen. Sie haben oft beides, einen Zugang zu Lebewesen und zu Dingen. In aller Regel bezieht sich dieser direkte Zugang nicht auf Lebewesen und Dinge im Allgemeinen, sondern auf bestimmte Lebenwesen, etwa Vögel, und bestimmte Dinge, etwa metallische Gegenstände. Diese Menschen sind in der Regel verbal sehr stark. Nach meiner Beobachtung sind beide Arten hyperempathischer Denker gut im Empfangen nichtverbaler Kommunikation; sie ist ihnen offenbar in der ein oder anderen Weise geläufig. Zugleich sind sie in ihrem Ausdruck auffallend rational und sehr bewusste Denker.
Denken in Bildern:
hervorragendes (Bilder-)Gedächtnis
visuelles Denken
assoziatives Denken
(rigide) logisch, präzise
wenig sprechen, Schwierigkeiten mit Lesen o. Schreiben
emotional offen
Subtypen:
Overloads und schlechte Konzentrationsfähigkeit
keine Overloads und gute Konzentrationsfähigkeit
Denken in Mustern:
Details vor Konzept
Gedächtnis und Konzentration mäßig
weniger ausgeprägte Overloads
sprachlich sehr gut
(kreativ) logisches Denken
emotional weniger durchlässig, keine "Ich-Maske"
Subtypen:
analytische Denker
assoziative Denker
Hören als Leitwahrnehmung
Sehen als Leitwahrnehmung (mit untypischer Stärken-Schwächenverteilung im Sehen)
Strukturierendes Denken:
strukturierendes und kreatives Denken
sehr gute Konzentration
starke Neigung zum Gleichbleibenden
keine Overloads
stabile Persönlichkeiten
Funktionales Denken:
(Denken in Funktionen)
intuitive "Theory of Function"
deutlicher Objektbezug
ausgeprägtes Fremdheitsgefühl
emotional weniger durchlässig, in sich ruhend
Hyperempathisches Denken:
sehr rationale und bewusste Denker
stark in nichtverbaler Kommunikation
emotional offen
Subtypen:
Bezug zu Menschen und verbal sehr schlecht
Bezug zu Lebewesen und Objekte und verbal sehr gut