Nichtautistisches Denken nimmt sich als etwas Ganzes wahr, es wohnt in der Sprache und nutzt ein Universum historisch gewachsener Konzepte, um sich und die Welt zu verstehen und um mit anderen zu kommunizieren.
Die Workshops "Autistische Fähigkeiten" sind eine Lehrwerkstatt zum Thema Autismus. Die eigenen Erfahrungen treffen hier auf Erfahrungen anderer autistischer Menschen. Da sie miteinander vergleichbar sind, lassen sich die eigenen Erfahrungen in denen der anderen spiegeln.
Als ich in meiner Jugendzeit anfing, mich mit Philosophie zu beschäftigen, wurde mir klar, dass das "normale" Denken grundsätzlich auf Sprache beruht. Mein Denken kennt dagegen zwei verschiedene Modi, zwischen denen ich wechseln kann, die sich aber gewaltig voneinander unterscheiden. Der eine Modus ist ein sprachlicher Modus, ein strukturierender und analytischer Modus - fernab von Emotionen oder Bedeutungen. Der andere ist wahrnehmungsbasiert, ein Wahrnehmen ohne Gegenstand, ein beständiger Fluss von Formen, Farben und Klängen, die nahtlos ineinander übergehen, sich ständig verändern und assoziativ miteinander verbunden sind, Farben mit Klängen, Formen mit Gerüchen und so weiter. Mein sprachliches Denken pickt sich aus diesem Strom der Wahrnehmung einzelne Aspekte heraus, verknüpft sie mit Begriffen und erzeugt auf diese Weise eine Welt von Objekten und Bedeutungen. Ich weiß es, weil ich gut den Zustand kenne, in dem das sprachliche Denken seine Dienste versagt und ich mich in einem Strom von Formen, Farben und Klängen wiederfinde, die keine Gegenstände mehr bilden. Ich befinde mich dann nicht in diesem Strom, ich bin Teil davon. Das Denken in zwei Modi hat mich eine zeitlang ziemlich überfordert, bis ich durch mein Mathematikstudium nach und nach gelernt habe, damit umzugehen. Früher hatte ich den Eindruck, in beiden Welten jeweils nur halb zu sein, und mein Denken daher als defizitär wahrgenommen. Seither erlebe ich es als Bereicherung, in zwei Welten zu leben.
Inzwischen habe ich weit über tausend autistische Menschen unterschiedlichster Art kennen gelernt, annähernd 800 in mehr als 120 Fähigkeitenworks, die ich bislang moderiert habe. In diesen Workshops habe ich die Erfahrung gemacht, dass sich das Denken autistischer Menschen sehr voneinander unterscheidet und ein ganzes Spektrum bildet. Ich sehe beides, autistisches und nichtautistisches Denken, jeweils als ein Spektrum, das autistische deutlich größer als das nichtautistische. Beide Spektren überlappen sich vermutlich nicht, kommen sich aber nahe. Autistische Denkweisen unterscheiden sich darin, welche Wahrnehmungskanäle welchen Beitrag zum Denken leisten, wie sie untereinander vernetzt sind, wie wahrnehmungsbasiertes und sprachbasiertes Denken miteinander vernetzt sind, ob eher assoziatives oder analytisches Denken in den Vordergrund tritt und vieles mehr. Trotz dieser Unterschiede lässt sich das Spektrum in Denktypen clustern, wobei die Cluster wiederum Spektren bilden. Sie entstehen mit der Erfahrung fast von alleine, weil es immer wieder Momente gibt, in denen vertraute Muster auftreten. Meine Erfahrungen passen gut zu neurobiologischen Befunden, die die Vernetzung im Gehirn im Fokus ihrer Forschung haben: Bereiche der Wahrnehmungsverarbeitung sind dichter vernetzt und loser mit Bereichen der Sprachverarbeitung (und Motorik) verbunden: getrenntes Denken.
Meine Erfahrung mit meinem wahrnehmungsbasierten Denken zeigt es als assoziativ organisiert. Die Dinge, das Wahrgenommene, bilden auf der Basis von Ähnlichkeiten untereinander Netzwerke von Verknüpfungen aus; Ähnlichkeiten in Bezug auf Form, Farbe, Klang oder dergleichen. Dieses Netzwerk ist nicht fest, sondern in hohem Maße dynamisch, es verändert sich in jedem Moment. Wie nicht enden wollende Kaskaden strömen die lose miteinander verknüpften Wahrnehmungsinhalte dahin. Ich habe den Eindruck, dass wohl alle autistischen Menschen so eine Art des Denkens kennen. Tatsächlich bin ich mir unsicher, ob es allen so bewusst ist wie mir, aber ich bin mir sicher, dass sich alle ihres wahrnehmungsbasierten Denkens bewusst werden können. Diese Sicherheit habe ich aus den Erfahrungen in den Workshops. Sprachliches Denken basiert dagegen auf Konzepte, Strukturen, die die sich permanent wandelnden Wahrnehmungsreize in feste Objekte bannen. Es ist analytisch und in sich abgeschlossen: Es zeigt eine in sich geschlossene Objektwelt und ein als "Ich" wahrnehmbares klar abgegrenztes Individuum. Wahrnehmungsbasiertes Denken ist dagegen immer offen, es gibt hier keine Unterscheidung zwischen innen und außen: das eigene "Selbst" erscheint diffus, als Teil des Wahrgenommenen. Sprache bildet ein Netzwerk von aufeinander bezogenen Bedeutungen, das sich als feste Struktur über das höchst veränderliche Netzwerk der Wahrnehmungsassoziationen legt. Während autistische Menschen als getrennte Denker ihr wahrnehmungsbezogenes Assoziationsnetzwerk unter dem Netzwerk ihres sprachlichen Denkens erkennen können, verschwindet es bei verschränkten Denkern hinter der sprachlichen Wirklichkeit.
Die Erfahrungen aus den Workshops sind davon geprägt, dass die Teilnehmenden offen, wertfrei, interessiert und reflektiert miteinander umgehen - wenn sie die Kommunikationssituation als sicher wahrnehmen. Sicher heißt dabei sicher vor Missverständnissen, Interpretationen, versteckten (und subtil wahrnehmbaren) Absichten und vor Irritationen. Sind diese Voraussetzungen gegeben, sind sie in einem doppelten Sinne füreinander offen: indem sie offen von den anderen gelesen werden können und indem sie offen aufnehmen, was ihnen die anderen zu lesen geben. Auf diese Weise können autistische Menschen ihre Erfahrungen austauschen und die Erfahrungen anderer (autistischer) Menschen in ihr Erleben integrieren. Etwas, was ansonsten, in einem nichtautistischem Kommunikationsumfeld, nur sehr schwer gelingt. Der Austausch ist wie die Gesprächsverläufe weitgehend assoziativ organisiert. Sie entsprechen dem Denken der Teilnehmenden. Dieses Denken kann in einem assoziativen Kommunikationsumfeld Verbindungen zum Denken der anderen aufnehmen. Die Offenheit in den Workshops zeigt, dass autistische Persönlichkeiten sich selbst nicht als klar abgegrenzte Individuen wahrnehmen. An der assoziativ strukturierten Gesprächsführung zeigt sich obendrein ihr direkter Zugang zu ihrem wahrnehmungsbasierten Denken.